Sexuelle Selbstbestimmung

Sonntag, 20. Februar 2005

Sexuelle Selbstbestimmung als Widerstand

Der erste erotische Roman einer muslimischen Autorin

Die Mandel

Poetischer Widerstand einer Muslimin

mandel

Gedemütigt und verletzt bricht die junge Badra aus ihrer arrangierten Ehe aus. In Tanger stürzt sie sich in eine leidenschaftliche Affäre. Unter Pseudonym schreibt dies eine muslimische Autorin - erstmals, weil es in islamischen Ländern verboten ist, erotische Romane zu schreiben und vor allem zu veröffentlichen.
"Die Mandel" ist ein autobiografischer Roman, der zugleich als "poetischer Widerstand" gegen eine islamistisch dominierte Gesellschaft gelesen werden kann.
Was Leidenschaft ist Marokko. Irgendwo in einem Dorf zwischen Wüste und Meer, Ende der 70er Jahre. Die junge Muslima Badra ist aus dem Martyrium ihrer Zwangsehe abgehauen und flieht, von ihrer Familie verstoßen, nach Tanger. Tanger, die Stadt der Huren und der Heilsuchenden, Hafenstadt und Tor nach Europa. Dort findet sie Schutz bei ihrer Tante.
Badra droht der Tod, aber anstatt sich zu verstecken, will sie wissen, was Liebe - und vor allem: was Leidenschaft ist. Sie beginnt eine Affäre mit einem reichen, gebildeten Marokkaner, der sie in die Liebe und ihre Künste einführt, der ihr alles zeigt, wozu ihr Körper in der Lage ist; der sie fühlen lässt, was Begehren heißt, der ihr alles gibt und alles nimmt. Eine amour fou.
Wie ein Regen:im Roman klingt das so: "Er verstand es, mich zu öffnen, mich zu nehmen, mich bis zum ersticken auszudehnen, meine Lungen und jede Faser meines Leibes zu füllen. Sein Sperma schoss in langen Strahlen hervor, rann wie Regen über meine empfindlichen Schleimhäute und wusch meinen Schoß vom Brand rein."
Oder auch: "Einen Tag fand er mich zu dick für seinen Geschmack, am nächsten Tag zu mager. Manchmal streikte er und weigerte sich drei Wochen lang, mich anzurühren, warf mir mein Begehren vor. Dann plötzlich, wenn ich schon zweifelte, jemals wieder seinen Körper sehen und seine Haut berühren zu dürfen, riss er mich wie ein Tornado um, rammte sein Schwert in mich hinein, nahm mich auf dem Boden, gegen die Wand gedrückt, brüllte seine Lust heraus und bat mich, ihm Schweinereien ins Ohr zu flüstern."
Selbstbestimmte Sexualität
Ein Skandal, denn zum ersten Mal hat es eine muslimische Frau gewagt, derartiges in einen Roman zu schreiben. Es ist eine Hymne auf die selbstbestimmte Sexualität der Frau, ein Eloge auf die Wonnen des Körpers.
"Nedjma" ist das Pseudonym einer Autorin, die anonym bleibt und nun allein schon wegen der offenen Erotik des Buches um ihre Leben fürchten muss. Aber das Buch ist weit mehr: es ist eine Protesterklärung wider den engen Geist der arabischen Welt.
Bedingungslose Hingabe:
Nedjma sagt das so: "Das Buch ist eine Reaktion, es ist eine Wut, die sich in diesem Buch ausdrückt, die Wut, die nach dem 11. September entstanden ist, weil der 11. September ein Auflodern ist, eine totale Konfrontation zweier Fundamentalismen, des muslimischen und des amerikanischen Fundamentalismus. (...) Gegenüber diesen beiden Skandalen, dem Fundamentalismus und US-Hochmut und Blindheit, habe ich entschieden, selber skandalös zu sein und ein Buch über den Körper zu schreiben."
Sexuelle Selbstbestimmung als Widerstand gegen eine Gesellschaft, die von Verboten und der Verhüllung des Körpers geprägt ist. Nedjma schildert offen ihre bedingungslose Hingabe an den Geliebten. Als diese Symbiose bricht, hat sie "nur noch" Sex mit unzähligen Liebhabern. In der islamischen Welt ist das nicht nur Tabubruch, das ist ein Verbrechen.
Postkoitale Zärtlichkeit:
Sie schreibt: "Die Männer reden, und ich massiere meine Schläfen. Ich warte, bis sie ihren Wortvorrat erschöpft haben und in mich eindringen, lange, langsam, schweigend. Sobald meine Vagina aufhört, vor Lust ihren Saft zu vergießen, wende ich demjenigen, der mir soeben Orgasmen beschert hat, den Rücken zu. Mein Unterleib kennt keine Dankbarkeit. Die postkoitale Zärtlichkeit lässt mich ebenso kalt wie die postkoitale Tristesse. Meine Liebhaber dürfen nur schweigen, schlafen oder gehen."
Das Tabu als Instrument der Machtausübung: Sexualität, wie sie die Autorin einfordert, bedeutet in der real existierenden Welt des Islam zugleich individuelle Freiheit. Und eben davor haben Mullahs Angst.
Das Tabu der Sexualität:
Nedjma: "Es fällt unter die Strafe des Gesetzes, über Sexualität zu schreiben. Es gibt keine erotischen Bücher. Weder Männer noch Frauen können das schreiben. Das mag es vielleicht in den Schubladen geben, aber es darf nicht veröffentlicht werden. Das ist verboten. (...) die drei Tabus, die auf uns lasten und bewirken, dass die arabische Welt heute ein einziges Desaster ist, sind das Tabu der Sexualität, das Tabu der Religion und das Tabu der Politik."
Individuelle Freiheit ist nach Nedjmas Erfahrung unvereinbar mit der muslimischen Welt: "Das hieße, "ich" zu sagen. Das "Ich" existiert nicht in der arabischen Welt. Das individuelle Ergreifen des Wortes gibt es nicht. Wir sind immer ertrunken in der Blase der Gläubigen, der Gemeinschaft der Muslime, der arabischen Nation und der Nation im Kleinen."
almond
Gefangen im Kollektiv:
Unmündig, gefangen im Kollektiv einer islamistisch dominierten Glaubensgemeinschaft. Der Schleier dient zur Verschleierung des Körpers. Er wird ins Kollektiv gezwungen. Öffentliche Kritik von Frauen erfährt der Islam selten, um so mehr hat Nedjma Mut bewiesen. Aber sie ist keine Ungläubige, auch wenn sie mit ihrem Buch gewiss als solche verfolgt würde.
Nedjma: "Der Islamismus ist Betrug. Islamismus ist nicht Islam, und den Schleier zu tragen, löst nicht das Problem. Unser Problem ist nicht, einen Schleier zu tragen oder nicht, unser Problem ist heute, ob wir in der Lage sind, eine offene und universelle Lesart des Islam zu etablieren. Den Schleier zu tragen, bedeutet für mich die erste Botschaft des Islam zu verraten, nämlich die der Freiheit. Der Islamismus ist Gotteslästerei."
So politisch, so kämpferisch kann erotische Literatur sein. Für uns mag es nur ein weiterer Roman in der Reihe von Frauen geschriebener Pornografie sein. Trotzdem: Möge das Buch in Tanger und Teheran von vielen Männer und Frauen gelesen werden.

Anschliessend Leseprobe:

"Prolog
Dieser Bericht ist vor allem eine Geschichte der Seele und des Fleisches.

Einer schonungslosen, manchmal grausamen Liebe, die sich um keine Moral schert, außer um die des Herzens. Mit diesen Zeilen, in denen sich Sperma und Gebet vermischen, habe ich versucht, die Mauern niederzureißen, die heute das Himmlische vom Irdischen, den Körper von der Seele, das Mystische von der Erotik trennen.

Nur die Literatur hat die Macht einer »tödlichen Waffe«. Also habe ich mich ihrer bedient. Ohne Scham und innerlich triumphierend. Getrieben von dem Ehrgeiz, meinen Blutsschwestern die von ihren Vätern, Brüdern und Ehemännern konfiszierte Sprache zurückzugeben. Als Huldigung an die alte Kultur der Araber, in der das sinnliche Verlangen sogar in der Architektur Ausdruck fand, die Liebe von der Sünde befreit und Lust zu empfinden und zu bereiten eine Pflicht des Gläubigen war.

Ich erhebe diese Worte ¿ wie man ein Glas erhebt ¿ auf das Wohl der arabischen Frauen. Möge es ihnen gelingen, die ihnen geraubte Sprache des Körpers wiederzufinden und so zugleich ihre Männer zu heilen.

Ich, Badra bent Salah ben Hassan el-Fergani, in Imchouk im Zeichen des Skorpions geboren, Schuhgröße achtunddreißig und bald fünfzig Jahre auf dem Buckel, erkläre Folgendes: Es ist mir völlig gleichgültig, dass die schwarzen Frauen saftige Geschlechter haben und ganz und gar gefügig sind; dass die Babylonierinnen die begehrenswertesten und die Damaszenerinnen die zärtlichsten und die Araberinnen und Perserinnen die fruchtbarsten und die treusten Frauen sind; dass die Nubierinnen die rundesten Hinterteile, die weichste Haut und ein Verlangen haben, das wie Feuerzungen brennt; dass die Türkinnen die gefühlloseste Gebärmutter, das giftigste Temperament, das rachsüchtigste Herz und die klarste Intelligenz besitzen; dass die Ägypterinnen über eine schmeichelhafte Sprache, einen angenehmen Charakter und eine kapriziöse Art von Treue verfügen.

Ich erkläre hiermit, dass ich auf die Schafe wie auf die Fische pfeife, auf die Araber wie auf die Europäer, aufs Morgen- wie aufs Abendland, auf Karthago wie auf Rom, auf Henchir Tlemsani wie auf die Gärten von Babylon, auf Galiläa wie auf Ibn Battouta, auf Nagib Machfus wie auf Albert Camus, auf Jerusalem wie auf Sodom, auf Kairo wie auf Sankt Petersburg; auf Johannes wie auf Judas, auf die Jungfrauen wie auf die Huren, auf die Schizophrenen wie auf die Paranoiden, auf Ismahan wie auf Abdelwahab, auf das Wadi Harrath wie auf den Pazifik, auf Apollinaire wie auf Moutannabi, auf Nostradamus wie auf Diop, den Marabut.

Ich, Badra, verkünde, mir nur einer Sache sicher zu sein: Dass ich das schönste Geschlecht der Welt habe; es hat die schönste Form von allen; es ist prall, heiß, feucht, duftend und singt wie kein anderes; und es ist unübertrefflich in seinem Verlangen nach harpunengleich sich reckenden Schwänzen.

Das kann ich sagen, jetzt, da Driss tot ist und ich ihn unter den Oleanderbüschen in Imchouk, dem Dorf der Ungläubigen, begraben habe."

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